Dieses Zitat hat Walter Benjamin seiner Dissertation »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« vorangestellt.

Wo fan­ge ich an?

Mai auf Juni die­ses Jah­res erhal­te ich eine Ein­la­dung nach Ber­lin. Paul Klees Ange­lus Novus ist im Bode-Muse­um zu sehen. (Die Aus­stel­lung hieß »Der Engel der Geschich­te / Wal­ter Ben­ja­min, Paul Klee und die Ber­li­ner Engel 80 Jah­re nach Kriegs­en­de«. Der Kata­log zur Aus­stel­lung » liegt – Stand Mit­te August 2025 – als PDF zum kos­ten­lo­sen Down­load vor, was mich freut.)

Der, der mich ein­ge­la­den hat, weiß um mein Inter­es­se an die­sem Bild von Paul Klee. Seit gerau­mer Zeit hän­gen der Ange­lus Novus und Das Pathos der Frucht­bar­keit als ein­fa­che Dru­cke in mei­nem Arbeits­zim­mer. Hin und wie­der wech­seln sie ihre Bedeu­tung. Aktu­ell steht mir der Ange­lus (ein­zeln) für Fritz Hein­le. Mit Das Pathos der Frucht­bar­keit als Ensem­ble ver­stan­den, ste­hen die bei­den für den Demi­ur­gen und die Cho­ra aus Pla­tons Tima­i­os.

Ganz einfach arrangiert finden sich die beiden an der Wand.

In Ber­lin ein­ge­trof­fen, besu­che ich am ersten Abend eine Lesung, der ein gemein­sa­mes Essen folgt. Im Rah­men des Essens fin­de ich mit einer Dame ins Gespräch, die gera­de zur Phä­no­me­no­lo­gie Huss­erl­scher Prä­gung arbei­tet. Was ich erin­ne­re, ist ein anre­gen­des Gespräch und auch ein gutes Essen.

Vor dem Ein­schla­fen schau ich noch Der Him­mel über Ber­lin. Ich kann­te den Film nicht, und er beglei­tet die Aus­stel­lung. Im Abspann taucht ein Name auf, der mich über­rascht. Es ist kaum drei Stun­den her, da wur­de ich wäh­rend des Essens – und in (schein­bar) ande­rem Zusam­men­hang – noch auf die Sel­ten­heit die­ses Namens hin­ge­wie­sen.

Tags dar­auf sind wir dann in der Aus­stel­lung, sehen das Ori­gi­nal, sehen die Ver­si­on, die Paul Klee übri­gens auf einen alten Kup­fer­stich, der Mar­tin Luther zeigt, geklebt hat.

Es ver­geht ein wei­te­rer Tag, und ich tref­fe eine Dame zum Kaf­fee. Wir füh­ren seit Jah­ren ein Gespräch und nut­zen die Gele­gen­heit mei­nes Besuchs für die Fort­set­zung von Ange­sicht zu Ange­sicht. Mit einem Mal erscheint sie, und sie trägt eine Gar­de­ro­be, die nahe­zu exakt der Gar­de­ro­be, die Nick Cave im Him­mel über Ber­lin trägt, koor­di­niert ist (schwar­zes Bein­kleid, ele­gant geschnit­te­nes, klas­si­sches Ober­hemd in einem beson­de­ren Rot). Am Abend die­ses Tages erfah­re ich dann – am Stutt­gar­ter Platz – von Fritz und Rika. Wir lau­fen an einem Haus vor­bei in dem die Freun­de der bei­den damals Zeit ver­bracht, getrau­ert, auf­ge­ar­bei­tet haben.

Gut, um zu ver­ste­hen, was ich mei­ne, gehen wir nun erst ein­mal zurück ins Jahr 1914, gehen ins Wochen­en­de 8./9. August. In der Brü­cken-Allee 9 trägt sich eine Tra­gö­die zu. Fritz (Chris­toph Fried­rich) Hein­le und sei­ne Freun­din Rika (Frie­de­ri­ke) Seligson neh­men sich an die­sem Wochen­en­de das Leben, ver­ga­sen sich. Als Grund wird Pro­test gegen den Kriegs­be­ginn genannt. (Ob und wie das alles inein­an­der­greift, kann und möch­te ich nicht beur­tei­len. Mir ist der Frei­tod die­ser bei­den jun­gen Men­schen – so es ein Frei­tod war – ein­fach nur ganz trau­rig. Fritz ist gera­de ein­mal zwan­zig, Rika weni­ge Jah­re älter …)

Zurück zu Wal­ter Ben­ja­min, bei dem die meis­ten Fäden die­ses Bei­trags zusam­men­lau­fen – er ist eines der absor­bie­ren­den Ele­men­te, um die es mir hier geht.

1918 und 1919 hat Wal­ter Ben­ja­min an sei­ner Dis­ser­ta­ti­ons­schrift Der Begriff der Kunst­kri­tik in der deut­schen Roman­tik gear­bei­tet. 1920 fand die Arbeit dann in Bern bei A. Fran­cke in die Ver­öf­fent­li­chung. Eine durch­such­ba­re PDF-Ver­si­on der Schrift fin­det sich auf den Web­sei­ten der HHU Düsseldorf »

Mei­ne beson­de­re Beach­tung gilt dem ein­lei­ten­den Zitat, wes­halb es sich auch zu Beginn die­ses Bei­trags fin­det. Las­sen Sie mich auf Fritz Hein­le zurück­kom­men. Fritz Hein­le nimmt bei Wal­ter Ben­ja­min eine ganz beson­de­re Stel­lung ein.  Er ist ihm so beson­ders, dass er ihn als den ein­zi­gen Men­schen in sei­nem stu­den­ti­schen Umfeld bezeich­net. Spä­ter erwähnt er ihn immer wie­der als sei­nen schlecht­hin­ni­gen Freund. Auch spricht er davon, dass er der ein­zi­ge (Dich­ter) sei, dem er nicht »im Leben«, son­dern in sei­ner Dich­tung begeg­net sei. Rika Seligson sprach von einer Bru­der­schaft wider bes­se­res Wissen.

1921 sieht Walter Benjamin den Angelus Novus

— oder —

Als es Walter plötzlich ganz anders wurde, sich aus dem Nebeneinander ein Miteinander, ein Durch-Einander in Notwendigkeit ereignet. 

Wie­der war er der jun­ge Mann von einst, wie­der stand der Krieg erst bevor, wie­der war die Kraft von einst in sei­nem Leib, und wie­der war Fritz neben ihm, bei ihm, mit ihm – ergän­zen­de Wech­sel­sei­tig­keit. Eigent­lich hat­te sich Fritz nicht geän­dert. Jah­re spä­ter taucht er plötz­lich auf, hat ein­fach aus Paul Klees Hand aufs Blatt gefun­den, ruht – als guter Pro­tes­tant – auf (so in) Luther. Unwahr, doch wahr. »Der Begriff der Kunst­kri­tik in der deut­schen Roman­tik« liegt nicht weit zurück. Das vor­an­ge­stell­te Zitat Goe­thens – jetzt. Jetzt zeigt sich sei­ne Kraft im Fak­ti­schen. Fritz ist Wal­ter aus dem Leben ins Sym­bol gewor­den, so wird ihm das Tor ins Leben, die Lie­be (wie­der) offen.

Was sieht Wal­ter Ben­ja­min, wem begeg­net er? Es ist, es kann nur Fritz Hein­le sein. Plötz­lich greift alles inein­an­der, wird stim­mig. Der Dich­ter hat zurück­ge­fun­den, ist durch eine Trans­sub­stan­tia­ti­on gegan­gen, ist wie­der prä­sent, ganz prä­sent. Dass er Luther unter sich weiß, schließt alles (vor­läu­fig) ab. Ein Blick auf Das Pathos der Frucht­bar­keit mit sei­nen bio­mor­phen For­men lässt den Gedan­ken völ­lig stim­mig scheinen. 

Wal­ter Ben­ja­min kauft das Bild von Klee und wird den Ange­lus Novus »für immer« bei sich hal­ten – bei­der Bestim­mung.

Ich kann und möch­te hier nicht ins Detail fin­den, möch­te uns nur Ori­en­tie­rung geben. Ich inter­es­sie­re mich für die Bezie­hung, die zwi­schen Wal­ter Ben­ja­min und Fritz Hein­le bestand (und besteht), für den Ver­lauf der Bezie­hung zwei­er absor­bie­ren­der Ele­men­te. Ben­ja­min und Hein­le – bei­de absor­bie­ren, absor­bie­ren sich so auch wech­sel­sei­tig, absor­bie­ren alles ande­re – aus die­ser Per­spek­ti­ve betrach­tet – um so stärker.

Bevor ich um Christoph Friedrich Heinle wusste, ist mir der Angelus Novus im Jahre 2018 in einem Hotel in Warschau begegnet. Er zeigte sich dort im Furnier des Garderobenschranks meines Zimmers. Vielleicht wurde meine fortlaufende Aufmerksamkeit auf diese Weise gewährleistet? Ich weiß es nicht und möchte auch nicht spekulieren, möchte einfach nur davon berichten.

Ich fra­ge uns erneut: War­um die­ser Bei­trag?

Kurz: Mir sind Fritz Hein­le und der Ange­lus Novus jetzt eine Per­so­nal­uni­on. Ver­gleich­bar viel­leicht mit Caro­li­ne Schel­ling und Fried­rich Schel­lings Werk Cla­ra oder über den Zusam­men­hang der Natur mit der Geis­ter­welt. Man kann die Cla­ra so lesen, dass Caro­li­ne Schel­ling (ihr Tod ist ursäch­lich für sein Ent­ste­hen) ihren Schwa­nen­ge­sang durch Schel­ling vor­bringt, dass sie es war, die ihm den Stift führ­te, sich so für uns auch greif­bar ver­ewig­te … Las­sen Sie mich die Gele­gen­heit nut­zen, auf eine ganz wun­der­ba­re neue Aus­ga­be der Cla­ra hin­zu­wei­sen. Im Jah­re 2025 erschien der Titel nun end­lich wie­der, her­aus­ge­ge­ben von Vicki Mül­ler-Lüne­schloß, im Felix Mei­ner Verlag »

Ich recher­chie­re zu Fritz und sto­ße in Gesam­mel­te Brie­fe und Gesam­mel­te Schrif­ten von Ben­ja­min wie­der und wie­der auf Pas­sa­gen, die von Hein­le, sei­ner Bezie­hung zu Hein­le handeln.

Im Brief an Ger­hard Scholem vom 23.7.1920 erwähnt Wal­ter Ben­ja­min das in sei­nem Besitz befind­li­che Werk Paul Klees Die Vor­füh­rung des Wun­ders als das schöns­te all sei­ner Bil­der – viel­leicht kün­digt sich hier bereits der Ange­lus Novus an. Wer weiß …

Paul Klees Vorführung des Wunders und ein paar Bücher …

Von hier aus wol­len wir uns mit ein paar Anspie­lun­gen begnü­gen, um tie­fer ins The­ma zu fin­den. Sie wol­len ja ins The­ma fin­den, wol­len ihrer fri­schen Phan­ta­sie begeg­nen. Das wol­len Sie doch?

Aus der ersten Abtei­lung des ersten Teils der Dissertation:

Die Roman­tik grün­de­te ihre Erkennt­nis­theo­rie auf den Refle­xi­ons­be­griff nicht allein, weil er die Unmit­tel­bar­keit der Erkennt­nis, son­dern eben­so­sehr, weil er eine eigen­tüm­li­che Unend­lich­keit ihres Pro­zes­ses garan­tier­te. Das reflek­tie­ren­de Den­ken gewann für sie ver­mö­ge sei­ner Unab­schließ­bar­keit, in der es jede frü­he­re Refle­xi­on zum Gegen­stand einer fol­gen­den macht, eine beson­de­re sys­te­ma­ti­sche Bedeutung.

Aus der zwei­ten Abtei­lung des ersten Teils der Dissertation:

Die Unend­lich­keit der Refle­xi­on ist für Schle­gel und Nova­lis in ers­ter Linie nicht eine Unend­lich­keit des Fort­gangs, son­dern eine Unend­lich­keit des Zusammenhanges.

Aus der drit­ten Abtei­lung des ersten Teils der Dissertation:

Schle­gels Den­ken ist ein abso­lut begriff­li­ches, d. h. sprach­li­ches. Die Refle­xi­on ist der inten­tio­na­le Akt abso­lu­ter Erfas­sung des Sys­tems und die adäqua­te Aus­drucks­form die­ses Aktes ist der Begriff. In die­ser Anschau­ung liegt das Motiv der zahl­rei­chen ter­mi­no­lo­gi­schen Neu­bil­dun­gen Fried­rich Schle­gels und der tiefs­te Grund sei­ner stän­dig erneu­er­ten Benen­nun­gen des Absoluten.

Aus der vier­ten Abtei­lung des ersten Teils der Dissertation:

Zusam­men­hang im Abso­lu­ten, oder wenn man will, im Sub­jekt. Der Ter­mi­nus Objekt bezeich­net nicht eine Bezie­hung in der Erkennt­nis, son­dern eine Bezie­hungs­lo­sig­keit und ver­liert sei­nen Sinn, wo immer eine Erkennt­nis­re­la­ti­on an den Tag tritt. Die Erkennt­nis ist nach allen Sei­ten in der Refle­xi­on ver­an­kert, wie die Frag­men­te des Nova­lis’ es andeu­ten: das Erkannt­wer­den eines Wesens durch ein ande­res fällt zusam­men mit der Selbst­er­kennt­nis des Erkannt­wer­den­den, mit der des Erken­nen­den und mit Erkannt­wer­den des Erken­nen­den durch das Wesen, das er erkennt. Das ist die genau­es­te Form des Grund­sat­zes der roman­ti­schen Theo­rie der Gegen­stands­er­kennt­nis. Sei­ne Trag­wei­te für die Erkennt­nis­theo­rie der Natur liegt vor allem in den von ihm abhän­gi­gen Sät­zen über die Wahr­neh­mung sowie über die Beobachtung.

Abschlie­ßen­de Pas­sa­ge des ersten Teils der Dissertation:

Mit die­ser letz­ten Bemer­kung geht Nova­lis über die Theo­rie der Natur­be­ob­ach­tung zur Theo­rie der Beob­ach­tung geis­ti­ger Gebil­de über. Der „Satz” in sei­nem Sin­ne kann ein Kunst­werk sein.

Bit­te las­sen Sie uns an das Phä­no­men der Absorp­ti­on den­ken. Las­sen wir uns ent­spre­chen­de Frei­heit, fin­den sich hier eine Viel­zahl sol­cher Ele­men­te, sol­cher Pro­zes­se. (»Im Ver­damp­fen aller Inhal­te, wird das Sein fühl­bar.« Die­ser Satz von Karl Jas­pers erschließt uns – plötz­lich – noch ein wei­te­res Feld.)

Ja, wir wis­sen nun um ein paar Zusam­men­hän­ge, die uns (zum Bei­spiel) »Über den Begriff der Geschich­te« ein wenig anders betrach­ten lassen.

IX.

Mein Flü­gel ist zum Schwung bereit
ich kehr­te gern zurück
denn blieb’ ich auch leben­di­ge Zeit
ich hät­te wenig Glück.
(Ger­hard Scholem, Gruß vom Ange­lus)

»Es gibt ein Bild von Klee, das Ange­lus Novus heißt. Ein Engel ist dar­auf dar­ge­stellt, der aus­sieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu ent­fer­nen, wor­auf er starrt. Sei­ne Augen sind auf­ge­ris­sen, sein Mund steht offen und sei­ne Flü­gel sind aus­ge­spannt. Der Engel der Geschich­te muss so aus­se­hen. Er hat das Ant­litz der Ver­gan­gen­heit zuge­wen­det. Wo eine Ket­te von Bege­ben­hei­ten vor uns erscheint, da sieht er eine ein­zi­ge Kata­stro­phe, die unab­läs­sig Trüm­mer auf Trüm­mer häuft und sie ihm vor die Füße schleu­dert. Er möch­te wohl ver­wei­len, die Toten wecken und das Zer­schla­ge­ne zusam­men­fü­gen. Aber ein Sturm weht vom Para­die­se her, der sich in sei­nen Flü­geln ver­fan­gen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schlie­ßen kann. Die­ser Sturm treibt ihn unauf­halt­sam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, wäh­rend der Trüm­mer­hau­fen vor ihm zum Him­mel wächst. Das, was wir den Fort­schritt nen­nen, ist die­ser Sturm.«

Wal­ter Ben­ja­min, Sonet­te – das ers­te Sonett

Wal­ter Ben­ja­min woll­te und hat zwi­schen 1915 und 1925 fünf­zig Sonet­te für Fritz Hein­le geschrie­ben – es wur­den eini­ge mehr. Dem ersten stellt er Höl­der­lin voran.

 I
Wenn aber stirbt als­dann,
An dem am meis­ten
Die Schön­heit hing, daß an der Gestalt
Ein Wun­der war, und die Himm­li­schen gedeu­tet
Auf ihn, und wenn, ein Rät­sel ewig für ein­an­der,
Sie sich nicht fas­sen kön­nen
Ein­an­der, die zusam­men leb­ten
Im Gedächt­nis, und nicht den Sand nur oder
Die Wei­den es hin­weg nimmt und die Tem­pel
Ergreift, wenn die Ehre
Des Halb­gotts und der Sei­nen
Ver­weht und sel­ber sein Ange­sicht
Der Höchs­te wen­det
Dar­ob, daß nir­gend ein
Unsterb­li­ches am Him­mel zu sehn ist oder
Auf grü­ner Erde, was ist dies?

Höl­der­lin

1
Ent­he­be mich der Zeit der du ent­schwun­den
Und löse mir von innen dei­ne Nähe
Wie rote Rosen in den Däm­mer­stun­den
Sich lösen aus der Din­ge lau­er Ehe

Wahr­haft­ge Hul­dig­keit und bitt­re Stim­me
Ent­behr ich hei­ter und der Lip­pen Röte
Die über­brannt war von der schwar­zen Glim­me
Des Haa­res pur­purn schat­tend Stirn der Nöte

Und auch das Abbild mag sich mir ver­sa­gen
Von Zorn und Loben wie du sie mir botest
Des Gangs in dem du her­zog­lich getragen

Die Fah­ne deren Sinn­bild du erlo­test
Wenn nur in mir du dei­nen heil gen Namen
Bild­los errich­test wie unend­lich Amen.

Ich möch­te zu einem Abschluss mei­ner Gedan­ken zu Chris­toph Fried­rich Hein­les Ver­wand­lung fin­den. Es ist ja nur die Geschich­te eines zufäl­li­gen Mosa­ik­stein­chens. Ich hat­te eine uner­war­tet magi­sche Zeit in Ber­lin – das steht außer Fra­ge. Ich habe die Erleb­nis­se mit nicht unwe­sent­li­chem Auf­wand auf­ge­ar­bei­tet. Das steht mir auch außer Fra­ge. Aller­dings steht durch­aus auch außer Fra­ge, dass zu all­dem vie­les, sehr vie­les bereits aus beru­fe­nem Mun­de zu hören war, ist und sein wird, dass Wal­ter Ben­ja­min, als Kern eines Groß­kom­ple­xes ver­stan­den, in inten­si­ver Betrach­tung und gewis­sen­haf­ter For­schung fort­wäh­ren­den Bestand gefun­den hat.

Mit zwei Zita­ten löse ich mich nun aus dem Thema. 

a) Wal­ter Ben­ja­min: (in Vor­aus­sicht) »Ist ein­mal die Gesell­schaft unter Not und Gier soweit ent­ar­tet, daß sie die Gaben der Natur nur noch rau­bend emp­fan­gen kann, daß sie die Früch­te, um sie güns­tig auf den Markt zu brin­gen, unreif abreißt und jede Schüs­sel, um nur satt zu wer­den, lee­ren muß, so wird ihre Erde ver­ar­men und das Land schlech­te Ern­ten bringen.«

(Wal­ter Ben­ja­min, Ana­ly­ti­sche Beschrei­bung von Deutsch­lands Unter­gang, Ende der letz­ten von 20 The­sen, 1927)

b) Chris­toph Fried­rich Hein­le: Ich wäh­le ein Gedicht, das an mei­nen ersten Abend in Ber­lin anknüpft, an das Gespräch beim Essen. Es ist einem Brief – datiert auf den 8. Dezem­ber 1912 – bei­gefügt, den Fritz Hein­le an Herrn Huss­erl (gemeint ist einer der Söh­ne von Edmund Huss­erl) adressiert.

Die alte Frau spricht: [I]
An den Net­zen mei­ner Hän­de
Fühl ich mei­nen lan­gen Tag.
Immer rückt das Ende
Wie ein Turm, der über Gip­feln lag.
Düf­te wie von wel­ken Blü­ten, Rechts und links ein gold­nes Land.
Ach, ver­tret­ne Pfa­de hüten!
Miss­mut schlür­fen durch den Sand!
Wend’ ich mich zu grü­nen Büschen,
Wo der Abend nicht so schmerzt,
Wo des Was­ser­strah­les Zischen
Einen seid­nen Vogel herzt,
Ahnung schlürft tief ein Tri­ton,
Tas­tend streckt er sei­ne Zehen.
Unter­drück­te Stim­men wehen,
Und Gott Amor läuft davon –
Sieh! da schleicht er um die Ecke,
Legt den Bogen an und zielt –
Pocht mein Herz, dass ich erschre­cke –
Wars als hätt’ ichs schon gefühlt -

(gefun­den habe ich die­ses Gedicht von Hein­le in Chris­toph Fried­rich Hein­le / Lyrik und Pro­sa, her­aus­ge­ge­ben von Johan­nes Stei­zin­ger, Kad­mos, Ber­lin, 2016)

PS: Gut, dass wir hier nicht wis­sen­schaft­lich vor­ge­hen müs­sen, dass wir ein wenig sam­meln dür­fen, das Körb­chen aber nicht voll wer­den muss. So sind und blei­ben uns die Schät­ze, sind die, die uns als ers­te auf dem Weg begeg­net sind, ohne dass wir sys­te­ma­tisch ern­ten muss­ten. Und so – das sei am Ran­de bemerkt, zurück zum Anfang füh­rend – blei­ben wir viel­leicht doch auch dem wei­ter­ge­dach­ten Zitat von Goe­the treu?

PPS: Goe­the lässt mich wie­der an Caro­li­ne den­ken, auch er schätz­te sie sehr. Caro­li­ne taucht übri­gens in Ben­ja­mins Dis­ser­ta­ti­on auf. Dass sie auf­taucht, war zu erwar­ten. Wie sie auf­taucht, fin­de ich ein wenig scha­de. In einem zwei­bän­di­gen Werk, das ihren Vor­na­men als Titel trägt, sind Brie­fe gesam­melt, zusam­men­ge­fasst. Und im ersten Band fin­den sich auch ein Brief von Fried­rich Schle­gel, auf den sich Ben­ja­min bezieht, wes­halb der Titel im Lite­ra­tur­ver­zeich­nis auf­taucht. Viel­leicht ist die­ser Hin­weis ja ein Wink von Caro­li­ne. Das kann durch­aus sein. Ihre Brie­fe, ihre Brie­fe, ihre Briefe …