Wieder eine Sache mit Borges …
Biblioteca Pública Miguel Cané, Carlos Calvo 4319, Buenos Aires, Argentinien (im April 2014) – hier hat Jorge Luis Borges von 1938 bis 1946 gearbeitet.
NOTA! Lieber Leser, um den Gedanken folgen zu können, sollten Sie »Das Aleph« und »Der Zahir«, zwei kurze Geschichten von Borges, kennen. Sie werden Sie online finden.
Vorgeschichte: Im Zusammenhange mit meinen Vorbereitungen für das Projekt itfrombit » habe ich nach einem Ansprechpartner in Buenos Aires gesucht, der mir bei meiner Recherche zu Borges helfen kann. So bin ich auf Dr. Josef Oehrlein, den damaligen FAZ-Korrespondenten für Lateinamerika, gestoßen. Bei unserem ersten Telefonat stellten wir fest, dass wir beide aus Mainz kommen, die gleiche Schule besucht haben und dass er mit unserem Nachbarn in der gleichen Klasse war. Ein schönes und auch seltsames Ereignis als Einstieg in den Austausch mit einem (damals) völlig Fremden aus Argentinien – Josef nennt diese Art Synchronizitäten übrigens ganz einfach »borgesianisch«. Aus unserem Telefonat entwickelte sich ein reger Austausch, verbunden mit dem ein oder anderen Besuch. Ich bin sehr dankbar, dass Josef mich unterstützt hat, mir so Möglichkeiten geschaffen hat, die sonst nicht denkbar gewesen wären.
Ein Blick (April 2014) in den Lesesaal – zur Rechten ging es in den Keller, der heute leider nicht mehr zur Bibliothek gehört; die Treppe ist nicht mehr zu begehen.
Wäre der Keller noch offen, die Treppe noch zu begehen, gälte unsere ganze Aufmerksamkeit diesem unscheinbaren Fleck.
Hier lag (zur rechten Hand) ein kleines platt- und festgetretenes Stück Gummierung einer speziellen Buchreparatur, groß wie eine 2 Euro Münze, und Borges ist diese Treppe täglich mehrmals gelaufen.
Seine Phantasie, seine beständige Straßenbahn-Lektüre der »Göttlichen Komödie« und seine viele freie Zeit in der Bibliothek wirkten zusammen; die Geschichte des Alephs fand ihren Kern und wurde sukzessive – gleichzeitig rasch – fertig gedacht, fertig geschrieben.
Schade; am Ende der Geschichte wird das Aleph zerstört.
Doch ist die Zerstörung unwiederbringlich?
An dieser Stelle kommt der Zahir ins Spiel, eine 20 Centavo-Münze von 1929
Wenn nun das Aleph Alles in einem Punkt vereint und vereinigt und der Zahir Alles auf einen Punkt, auf sich, verengt … – ist es möglich, aus dem Zahir ein Aleph zu machen? Wie?
Ein Zahir reicht offenbar nicht; reichen vielleicht zwei? Kann man aus dem Zahir ein Aleph schöpfen? In vielen Hinsichten ist der Zahir das Gegenteil des Alephs und doch (gerade deshalb) lassen sich beide Gedanken mathematisch (mittels Riemannscher Zahlenkugel und Möbius-Transformation | mittels generischem Punkt, algebraischer Geometrie) ineinander überführen!
Einerseits bestimmt, andererseits unbestimmt … Wie das Narrativ und das Deskriptiv – wir haben es mit zwei Qualitäten der Unbegrenztheit zu tun.
Die beiden Zahire sind uns Geburt der Superposition; die Verengung beginnt zu schillern.
Jetzt noch der alchemistische Part, die Erdung – Erde – doch auch sie muss schillern!
Erde aus der Villa 15, der Ciudad Oculta, Erde vom »Elefante Blanco«, der Ende der 1930er Jahre das größte Hospital Lateinamerikas werden sollte. Erde von einem Hospital, das – in einer verborgenen Stadt – nie war.
Es ist nicht nur einer der Versuchung erlegen (wie sie es gemacht haben, davon will ich schweigen); ich habe es miterlebt, konnte und kann mich daher zurückhalten. Das Aleph ist das Erhabene und das Reale zugleich, es ist das wahrhaftig Unbegrenzte. Für einen Moment strahlen die Augen, dann werden sie stumpf, wird und bleibt alles stumpf.
Vielleicht muss auch dieses unechte echte Aleph zerstört werden.
Epilog: Um an die Erde der Villa 15 zu finden, musste ich mich an jemanden wenden, der einerseits vertrauensvoll ist und sich andererseits – dies ist wohl noch viel wichtiger – unbeschadet in dieser Gegend aufhalten kann. Der Zufall – Zufall? – wollte es, dass Sieglinde Oehrlein, die Frau von Josef, mit der Gegend und den dortigen Menschen vertraut ist; sie unterstützt dort lebende Kinder, besucht mit ihnen die Welt außerhalb der Ciudad Oculta und schafft so Grundlagen, die eigene Position zu reflektieren und sich somit vom – der Gegend eigenen – Gewaltcharakter zu emanzipieren – ganz ohne erzieherischen Impetus, über Ansprechbarkeit und das Bereiten von Freude.